Was ist Diakonisches Lernen: Anhand der Preisverleihung des Wettbewerbs "Mitten ins Leben" wird das Konzept erklärt.

Diakonisches Lernen

Anderen begegnen, anders lernen

„Soziales Lernen kann man nicht an die Tafel malen!“ – Wie Lehrkräfte an diakonischen Lernorten zur Wertebildung ihrer Schüler und Schülerinnen beitragen.

„Äußerst liebenswerte Bewohnerinnen“, „Pflegekräfte, die sich täglich mit Herz in ihre Arbeit stürzen“, Pauline, Maja und Ines vom Schweinfurter Celtis-Gymnasium waren überrascht, was sich hinter der unscheinbaren Fassade des Pflegezentrums Wilhelm-Löhe-Haus in der Nähe ihres Gymnasiums verbirgt. Im Rahmen des Diakonischen Lernens besuchten die drei Schülerinnen aus der heutigen  Q 12 im Schuljahr 2019/20 jeden Freitag eineinhalb Stunden lang Bewohnerinnen des Löhe-Hauses, sind mit ihnen spazieren gegangen, spielten und lasen ihnen vor.

Diakonisches Lernen in der Mittelschule - vom Wert regelmäßiger Begegnungen zwischen Schülern und Bewohnerinnen eines Seniorenheimes.

Was zuerst als eher lästige Verpflichtung erschien - freitags länger in der Schule zu bleiben -  wurde ihnen bald zum liebgewordenen Ritual, auf das sie sich jede Woche aufs Neue freuten. Besonders bereichernd seien die vielen Gespräche mit über 80-Jährigen gewesen, erzählen die Schülerinnen im Jahresbericht der Schule. „Beim Schwelgen in Erinnerungen konnten wir viel über die Vergangenheit erfahren und dabei noch wichtige Lebenseinstellungen und Weisheiten für unsere Zukunft mitnehmen“. Und die drei schließen ihren Bericht: „Wir können den zukünftigen Zehntklässlerinnen und Zehntklässlern diese Art von sozialem Engagement nur wärmstens ans Herz legen.“

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Solche Reaktionen sind Pfarrer Martin Dorner, Projektleiter der Initiative Diakonisches Lernen gut bekannt. Denn Diakonisches Lernen folgt einer einfachen Grundidee: Schüler und Schülerinnen wollen erleben, dass sie nützlich sind und gebraucht werden. Auf diese Weise weiten sie ihren Blick.

"Musik am Bett": Diakonisches Lernen im Musikunterricht

"Sie entdecken ganz natürlich, im Handeln, den Wert des Sozialen und gewinnen Zugang zu biblisch-christlichen Grundlagen sowie Anliegen und Formen von Diakonie", unterstreicht Dorner. "Diakonisches Lernen ist erlebnis- und wissensorientierte soziale Bildung in christlicher Perspektive."

Der Einsatz der Schülerinnen im Celtis-Gymnasium ist kein Privatvergnügen: Sie wurden von den Religionslehrkräften dazu ermutigt, sich diakonisch zu engagieren. So organisierten Siebtklässler im Rahmen des Religionsunterrichts einen Spielenachmittag im Wilhelm-Löhe-Haus, die Älteren besuchen eine Schule für Kinder mit Behinderungen, arbeiten bei der Vesperkirche mit  oder nehmen an einem Seminar „Demenz und Musik“ teil, eine weitere Gruppe lackiert in einem Seniorenheim älteren Damen die Nägel.

 

Diakonisches Lernen

Die Initiative Diakonisches Lernen in Bayern ist in Zusammenarbeit mit dem Diakonischen Werk Bayern, der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, der Universität Regensburg, der Gymnasialpädagogischen Materialstelle Erlangen, dem Religionspädagogischem Zentrum Heilsbronn und der Evangelischen Schulstiftung in Bayern im Jahr 2010 entstanden. An den mehr als 150 diakonischen Lernorten der bayernweiten Initiative sind unkomplizierte Begegnungen mit der „Welt der Diakonie“ möglich. www.diakonisches-lernen.de

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Emotionen und Begegnungen spielen beim sozialen Lernen eine entscheidende Rolle: Eine Grundschulklasse kocht zum Beispiel gemeinsam mit Ehrenamtlichen aus einer Kirchengemeinde bei einem diakonischen Aktionstag ein Menü für einsame Menschen und für Menschen in Armut im Stadtteil. Der zehnjährige Daniele äußert sich darauf ganz begeistert: „… wenn man´s mal durch hat, dann hat man´s im Herzen … und ich empfehl´s halt, egal wem! Einfach mitmachen.“

"Wir geben Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, unkompliziert an außerschulischen Lernorten aktiv zu werden", erklärt Martin Dorner. "Dort begegnen ihnen Mitmenschen, die Diakonie brauchen oder die diakonisch tätig sind." An jedem Lernort gibt es einen kompetenten Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin (zum Beispiel Sozialpädagoginnen) für Lehrkräfte und Schüler. Gemeinsam mit dem Ansprechpartner klärt die Lehrkraft im Vorfeld, ob an eine einmalige Aktion, an eine wiederkehrende Begegnung, ein Praktikum oder an ein P-Seminar gedacht ist.

Anderen begegnen, anders lernen und dabei in die Fußstapfen des Diakons Jesus Christus treten – das ist Diakonisches Lernen. Dabei entscheiden Schüler und Schülerinnen, Konfis und Jugendliche selbst, ob es zum Beispiel der Vorlesenachmittag im Seniorenheim, die Mitarbeit in der Vesperkirche, der örtlichen Tafel oder die Übernahme eines Bausteins für einen generationsverbindenden Gottesdienst oder der Grillabend mit Menschen mit einer Behinderung ist. Immer geht es dabei ums Ausprobieren, überraschendes Erleben, Tatkraft und Spaß. Statistiken zur Diakonie, langweilige Präsentationen und große Reden interessieren dabei nicht. Es locken die „Straße“, der andere Ort und die Frage, wie Kinder und Jugendliche durch die Begegnung mit Menschen, die anders sind, lernen. Drei Phasen sind für das Konzept grundlegend: Die Annäherung an das Thema, die Begegnung(en) und die Phase der inhaltlichen Weiterarbeit.

Seit 2011 hat sich die Marke Netzwerk Diakonisches Lernen in Bayern an öffentlichen und evangelischen Schulen im Freistaat und in der Offenen Ganztagsschule etabliert. Es ist ein Netzwerk von über 150 sogenannten diakonischen Lernorten entstanden. Lehrkräfte, pädagogisches Personal, diakonische Fachkräfte und Ehrenamtliche aus Kirchengemeinden machen hier das, was in der Theorie immer gefordert wird, sie kooperieren tatsächlich miteinander. Jeder Lernort präsentiert sich dabei auf der Internetplattform diakonisches-lernen.de . Bei regionalen Fortbildungen treffen Lehrkräfte und die Ansprechpersonen der diakonischen Lernorte aufeinander, denn im Tandem lässt sich das Konzept erfolgreich und unkompliziert umsetzen. Diakonisches Lernen ist in den Lehrplänen für den Evangelischen Religionsunterricht in Bayern angekommen und das Fach gewinnt dadurch an Praxisbezug und Relevanz.

Multiprofessionelles Denken und Handeln prägt den Charakter des bayernweiten Netzwerks. Die Konzeptentwicklung und die Formulierung weiterer Ziele begleitet ein wissenschaftlicher Beirat. Hierzu zählen Vertreter des Religionspädagogischen Zentrums der ELKB, der Universität Regensburg, der Evangelischen Hochschule Nürnberg, der Evangelischen Schulstiftung in Bayern, der Gymnasialpädagogischen Materialstelle und dem Diakonischen Werk Bayern. Die Ausrichtung der jährlichen Fachtage und die Kooperation bei größeren Projekten liegt in den Händen einer Netzwerkgruppe. In ihr bringen Lehrkräfte verschiedener Schularten und Fächer, pädagogisches Personal aus Ganztagsschulen, Schüler und Studierende und diakonische Fachkräfte ihr Potential ein. Erfolgversprechend ist zudem der fachliche Austausch mit dem diakonischen Lernen in der Evang.-Luth. Kirche in Braunschweig.

Das Verständnis von „Diakonie“ beschränke sich dabei nicht auf die Institution. „Diakonie“ stehe für eine große und vielfältige Welt, die mit den elementaren Aspekten des Menschseins zu tun hat. Dazu zählen Aspekte wie zum Beispiel Verletzlichkeit, Leiblichkeit, Feier, Gemeinschaft, Wertschätzung, Gerechtigkeit, für andere sprechen und Nachbarschaft.

"Ich+Du = Lesefreude und Lebensfreude" Jugendlesepaten im Kindergarten und Tagesstätte für Senioren

Nächstenliebe geht auch auf Distanz

Auch in der Pandemie brach das angeleitete diakonische Engagement von Schülerinnen und Schüler nicht ab: So fanden in Schweinjfurt 57 Briefe ihren Weg zu den Bewohnerinnen und Bewohnern des Seniorenzentrums, die das Haus nicht verlassen durften. Darin erzählten die Jugendlichen aus ihrem Leben, weckten Erinnerungen, entwarfen Rätsel und schrieben Gedichte – und ließen die Älteren damit wissen: „Ihr seid nicht vergessen." In Uffenheim entwarfen Schülerinnen und Schüler  der Klasse 7bG an der Christian-von-Bomhardschule eine  digitale Stadtführung für die Bewohnerinnen und Bewohner in Senioren- und Pflegeeinrichtungen. Bei einem Stadtrundgang erkundeten die Schülerinnen und Schüler mit ihrer Lehrkraft idyllische und historische Plätze in Uffenheim und drehten danach ein Video zu Sehenswürdigkeiten und Lieblingsplätzen von Senioren und Seniorinnen, das sie am letzten Schultag vor denWeihnachtsferien der Heimleitung übergaben. Und Siebtklässlerinnen und -klässler des Gymnasiums Ottobrunn gestalteten rund um Pfingsten Foto-Grußkarten für Bewohnerinnen und Bewohner des Hanns-Seidel-Haus, die Mitgefühl, Freude und die Gewissheit, dass jemand an sie denkt, übermitteln sollen. Sie erlebten: Nächstenliebe geht auch auf Distanz.Dennoch freuen sich alle, wenn persönliche Begegnung wieder möglich ist.

Auch schwierige Erfahrungen

Die Erfahrungen sind so unterschiedlich wie die Einsatzorte und die jungen Menschen. Nicht jede Begegnung verläuft einfach – besonders, wenn die Älteren schlecht ansprechbar waren. „Doch genau dadurch lernten wir, wie unfassbar vergänglich das Leben ist“, so eine Schülerin. Doch ob große Begeisterung und Abschiedsschmerz oder Schwierigkeiten: „Es war ein Erlebnis, das niemand von uns missen möchte. Und auch wenn wir vielleicht ein bisschen ins kalte Wasser geschmissen wurden, war das vielleicht genau der richtige Weg, um uns die Augen für die wichtigen Dinge im Leben zu öffnen“, schreibt Wilhelmine aus der 10 a.  

08.03.2022
Martin Dorner/ELKB

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